München. Ein typisches Coaching bei einem führenden Finanzdienstleister. Die Führungskraft, welche mir gegenüber sitzt, ist ein erfolgreicher Fondmanager mit Ambitionen. Nennen wir ihn Ralf. Es geht um ein Job-Angebot, welches er von einer bekannten Unternehmensberatung erhalten hat. Meine Erfahrung als Coach sagt mir, dass das erste Anliegen eines Klienten meist nicht das eigentliche Beratungsthema beinhaltet. Ich kenne ihn schon länger. Ralf kann sehr gut und sehr schnell entscheiden. Also was ist sein „eigentliches“ Beratungsthema? 

Ich lasse Ralf vom neuen Job erzählen. Begeistert spricht er von dem neuen Umfeld, dem modernen Ambiente und dem möglichen, zukünftigen Team. Irgendwann unterbreche ich ihn und denke laut nach. „Also, du hast jetzt ein gut performendes Team, du hast dort hoffentlich wieder ein sehr gutes Team. Du bist jetzt nicht unzufrieden, eigentlich sogar sehr zufrieden. Du wirst dort vermutlich auch sehr zufrieden sein. Inhaltlich würde sich an deinen Aufgaben auch nicht sehr viel ändern, außer der Bezahlung, welche sicherlich verlockend klingt. Also wenn ich das mal auf den Punkt bringe, arbeitest du jetzt rechts der Isar und zukünftig links der Isar“. 

Wir lachen beide. So einfach ist es natürlich nicht. Aber Ralf wird nachdenklich. Es wird deutlich, dass hinter seinem Wechselbedürfnis „eigentlich“ etwas anderes steht. Eigentlich, wenn er ganz mutig wäre, würde er nicht nur die Bühne wechseln. Auch das Stück, welches dort gespielt wird, müsste etwas ganz anderes sein. So machen wir uns auf die Suche. 

Er arbeitet gerne im Garten. Noch lieber schraubt er in seiner Garage an den alten Autos seiner Kinder herum. Da geht er auf. Das fasziniert ihn. Eine Welt, in der er sieht, was er mit seinen Händen schaffen kann. „Eine kleine Autowerkstatt für alte Volvos. Das wäre es. Ich bin immer Volvo gefahren. Wir machen regelmäßig Urlaub in Schweden.“

Darum geht es also. Erfüllung und Zufriedenheit. Herzblut. Die Goldader, welche wir weiterverfolgen. Ralf lässt sich auf das Gedankenexperiment ein und wir kreieren ein „Visionboard“. Eine Collage mit Bildern aus Zeitschriften. Ralf ist begeistert von seinen Ideen, die wie von allein kommen. Aber auch seine Bedenken, Vorbehalte und Ängste werden deutlich. „Kann ich doch nicht machen“, „Die halten mich ja alle für verrückt“, „Meine Frau zeigt mir einen Vogel“ usw. 

Prima! Es geht nicht darum, Ralf zu irgendetwas zu drängen. Das Neue ist nicht besser als das Alte. Das wären Bewertungen, die im Coaching nichts zu suchen haben. Es geht darum gemeinsam mit Ralf zu reflektieren, was seine einschränkenden Glaubenssätze und Überzeugungen mit ihm machen. Er erkennt, dass all diese Muster im Grunde nur Ausreden sind, um nichts zu verändern. Natürlich könnte er. Er hat finanzielle Rücklagen. Seiner Frau wäre es sogar lieber, er wäre mehr zu Hause und würde weniger Arbeiten. 

Ralf beginnt für seine Situation Verantwortung zu übernehmen. „Wo ich bin möchte ich sein, alles andere war mir bisher zu teuer“, ein Satz von Jens Corssen, Münchner Diplompsychologe. Nichts ist wahrer. Jede Entscheidung kostet. Es gibt nichts umsonst. Ralf kennt und schätzt seine Komfortzone, welche ihm seine Firma, seine Familie und sein Umfeld bieten. Aber er ist im tiefsten Inneren nicht erfüllt. „Irgendetwas wartet noch auf mich“ hatte er mir mal gesagt. 

Eines Morgens treffen wir uns an der nebeligen Isar und laufen barfuß über die Steine. Schmerzhaft, da für die Füße ungewohnt. Später waten wir noch im kalten Isarwasser bis wir unsere Füße nicht mehr spüren. Hinterher fühlen wir uns umso lebendiger. Unbezahlbar. Veränderung ist immer beides – aufregend, lebendig und schmerzhaft. 

Ralf arbeitet heute immer noch in seiner alten Firma. Man schätzt ihn dort. Aber er hat seine Stunden reduziert – als Abteilungs- und Teamleiter! Gabs noch nie. Und er arbeitet jetzt nebenbei bei einem Freund, welcher alte Autos restauriert. „Meine Lernkurve ist hier immer noch am Ansteigen. Ich bin wieder mehr bei mir. Ich sehe am Abend was ich geschafft habe. Und ich weiß welches Wetter heute war, wenn ich zur Werkstatt radele. Unbezahlbar. Auch meine Frau sagt ich wäre wieder ausgeglichener und zufriedener, wenn ich nach Hause komme“, berichtet er begeistert. 

Sein „Visionboard“ hängt noch bei ihm im Büro. Manche Dinge müssen reifen wie ein guter Apfel, ein guter Wein oder alte Autos. 

Musiktipp: Angara „Arizona“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte füllen Sie dieses Feld aus
Bitte füllen Sie dieses Feld aus
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.
Sie müssen den Bedingungen zustimmen, um fortzufahren

Menü